Neue Musikzeitung
Ausgabe Februar 2020

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„Joseph Haydn und die Streaming-Generation“

Ein Haydn-Projekt mit der Klavierklasse von Claudia Bigos

Diepholz. Die Kreismusikschule Diepholz veröffentlicht zu Beginn jedes Schuljahres eine umfangreiche Broschüre mit den in den nächsten 12 Monaten geplanten Konzerten und Workshops. Für Instrumentallehrer eine gute Gelegenheit, im Frühjahr Pläne zu schmieden und Ziele zu formulieren. Bisweilen liegen anderthalb Jahre zwischen Entscheidung über das Wann Was Wo und dem betreffenden Termin. So ein Heft ist eine schöne Einrichtung, führt aber gelegentlich zu mittel- oder kurzfristigen Änderungen oder gar Absagen. Ursachen dafür können z.B. schwankende Schülerzahlen sein. Kurz, in einem Jahr kann viel passieren.
Mir erging es so, dass sich im letzten Jahr Ab- und Anmeldungen nicht mehr die Waage hielten und ich mir ernstlich um den geplanten Auftritt meines Ensembles im Rahmen der traditionsreichen Reihe „Dom-Motette“ in Bremen Sorgen machte. Das Querflötenorchester NEUSILBER, das unter meiner Leitung seit 2001 etwa 120 Konzerte gegeben hatte, bestand nur noch aus sieben fest angemeldeten Mitgliedern. Sehr gute und erfahrene Spielerinnen zwar, aber doch viel zu wenig, um das ehrwürdige Gewölbe des Bremer Domes, unter dem weit über tausend Menschen Platz finden können, mit Klang zu füllen.
Ich fasste Mut und griff zum Telefon, rief Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und ehemalige Querflötenschüler an und warb, in Bremen bei NEUSILBER mitzuspielen. Das Echo war gewaltig! Aus Jever, Rastede, Wilhelmshaven, Delmenhorst, Vegesack, Bremen-Steintor und Syke kamen bestens vorbereitete und hochmotivierte Musiker, 42 an der Zahl, um für die recht anspruchsvolle Domgemeinde zu spielen. Dazu gesellten sich noch zehn meiner Bläserklassenschülerinnen und -schüler aus Sulingen und Leeste!
Alle Beteiligten trafen sich zunächst in der Leester Marienkirche zu einem ersten, sehr erfreulichen Konzert, einer Art Feuertaufe. Fünf Wochen darauf kam der langersehnte Tag im St.Petri-Dom zu Bremen.
Gemeinsam mit unserem Freund, Komponisten und Organisten Dietrich Wimmer spielte NEUSILBER drei seiner uns zugeeigneten mehrsätzigen Werke: „Serenade“, „Uccelli della Primavera“ und „Isola misteriosa“ (UA) für großes Flötenensemble und Orgel. Auch die in dieser Fassung noch nie dargebrachte doppelchörige „Oster-Cantate“ Karl Mays (1842-1912) in einer Bearbeitung von Christian Lauckner kam zur Aufführung.
Diese vier Werke sind eine starke Empfehlung zur Bildung auch einmal großer und größter Querflötenensembles, sind sie doch bestens geeignet, unterschiedliche Leistungsstufen gemeinsam auftreten zu lassen. Auch lassen sich Orgel und Querflöten hier im klanglichen Gleichgewicht erleben. Und zuallerest muss auf den großen Ideenreichtum Wimmers hingewiesen werden, der in seinen Stücken in knappester Form herrliche Bilder entworfen hat, die Hörern und Spielerinnen sehr viel Freude bereiten.
Unsere „Dom-Motette“ war gut besucht. Auf dem Hochchor gab es keine freien Sitzplätze mehr. Die in dieser Form in Bremen noch nie aufgeführte Musik wurde begeistert aufgenommen und führte zum Schluss noch zur jubelnd eingeforderten Filmmelodie von „Winnetou“, ebenfalls einem Novum im St.Petri-Dom zu Bremen.
Solche Freunde und Kollegen, wie meine oben beschriebenBraunschweig. Die Annäherung an ein Stück im Unterricht beginnt beim Hören: ich spiele meinen Schülern das zu erarbeitende Stück – ausschnittsweise, denn natürlich soll der Notentext auch erarbeitet werden - vor. Ich spielte also Haydn und erlebte eine Überraschung: beim Vorspielen der Klavierstücke glaubten gleich mehrere der Schüler, diese schon irgendwo gehört zu haben. Haydn als Gassenhauer? Kaum wahrscheinlich bei der Streaming-Generation. Doch manche Harmonie- oder Tonfolgen und Formen (z.B. die Menuette) Haydns sind offensichtlich (oder offen-hörbar) so kategoriebildend, dass sie nicht nur zum Verwechseln ähnlich sind, sondern von uns als bereits bekannt wahrgenommen werden. Erstaunlich.
Dabei konnten von ca. 20 Schülerinnen und Schülern aller Altersgruppen nur 5 mit dem Namen Haydn etwas anfangen. Sie „kennen“ also die Musik, aber den Komponisten nicht. Kann eine Biographie hier eine Brücke zur differenzierteren Wahrnehmung seiner Werke sein?
- Hat jemand von Euch jemals eine Biographie gelesen? - Nee, wozu? Alles kann man in Kurzform bei Wikipedia nachlesen, das reicht meistens.
Eine pragmatische Erkenntnis einer 11-Klässlerin. Wie kann man bei jungen Menschen das Interesse für die Biographie eines vor knapp 300 Jahren lebenden Komponisten wecken? Die ins Buch gefassten Lebensdaten liefern das, was eine kompakte Fassung eines Wikipedia-Textes nicht gibt: spannende Details zum Leben und Wirken des Komponisten, Auszüge aus Briefen, manchmal sogar Fotos. Würde ich freiwillig eine Biografie von Niki Lauda oder Richard von Weizsäckers lesen? Unwahrscheinlich. Die Biographie von Lang Lang hat mich geflasht und erschüttert zugleich. Ich empfand Mitleid und grenzenlose Bewunderung. Hilft das oder stört eher, wenn ich jetzt seinen Interpretationen lausche? Unbefangenes Zuhören ist passé.
Die dem Haydn-Notenheft der Schüler vorangestellte Biographie des Komponisten wurde von keinem Schüler freiwillig durchgelesen. Eine Viertklässlerin sah zum ersten Mal den Namen Haydn auf dem Deckblatt und sagte spontan: „Wenn man nur 2 Buchstaben in seinem Namen verstellt, kommt dabei HANDY statt HAYDN raus“ und lachte vergnügt über ihre Entdeckung. Haydns Name wurde also im Nu von der Klassik ins digitale Zeitalter katapultiert. Warum ist mir selbst das nie aufgefallen? Die Stücke aus dem Heft wurden zwar geübt, aber das Interesse für den Komponisten Haydn begann erst, als ich den Schülern gezielt biographische Informationen gab. Plötzlich fanden sie es interessant, dass alle drei Komponisten, also Haydn, Mozart und Beethoven, sich kannten, dass sie in Wien lebten, dass Mozart Haydn als „Papa Haydn“ bezeichnete und ihm riet, nicht nach England zu fahren, weil er „keine Erziehung für die große Welt“ hat und „zu wenige Sprachen“ spricht. Die Schüler fanden Haydns Antwort: „Meine Sprache versteht man durch die ganze Welt“ total clever. „Musik ist universell, das Stück muss durch sich selbst verstanden werden, dafür braucht man nicht unbedingt die Biographie des Komponisten zu kennen“, sagte ein Abiturient. Interessant klang für sie, dass Haydn mit Mozart befreundet waren, dass Haydn für seinen Erfolg auch von Mozart bewundert wurde und dass Beethoven ein Schüler von Haydn war.
Das Leben von Haydn war sehr geregelt. Am Beispiel eines Textes erfuhren die Schüler, wie Haydn gelebt hat. Sie fanden daraufhin sein Leben unvorstellbar langweilig. „Haydn war scheinbar durch nichts abgelenkt, das wäre heute nicht möglich“, sagte ein Schüler und holte zum Beweis sein Handy aus der Hosentasche. Vielleicht auch deshalb konnte Haydn seine 104 Symphonien und 80 Streichquartette komponieren. Sein Leben verlief sehr geregelt, abgeschieden und finanziell abgesichert und bestand kaum aus spannenden, dramatischen Fakten oder Spekulationen, für die sich die Welt damals wie heute brennend interessieren würde.
Doch als Genie galt Haydn nie: er komponierte scheinbar zu viel. Er wird in Notensammlungen der führenden Musikverlage oft übergangen, als ob seine Musik nicht repräsentativ genug für seine Epoche wäre. In der Vielzahl seiner Werke werden Haydns musikalische Originalität und sein Ideenreichtum leicht verkannt. Dabei gibt es auf jeder einzelnen Seite eines Stückes eine überraschende Harmonie, eine melodische Wendung, eine besondere rhythmische Idee, die magisch wirken. Der Rest des Stückes ist das, was man aus Hörgewohnheit als „klassisch“ erkennt und empfindet. Und das zeichnet seine Musik aus. Diese Stellen will ich gemeinsam mit meinen Schülern entdecken. Und auch wenn sie am Ende Haydn nur als „Papa Haydn“ im Gedächtnis behalten, als vertraut und verlässlich, vielleicht etwas altbacken, in einer Welt, in der man sich sonst auf immer weniger verlassen kann, dann ist das gut. Vielleicht werden sie erst viel später beim Hören oder Spielen eines Stückes von Haydn neugierig auf sein Leben werden. Eine Biographie müssen die Schüler nicht lesen, dafür fehlen ihnen die Zeit und die Notwendigkeit, sich mit dem Komponisten so intensiv zu befassen. Ich habe seine Biographie gelesen und habe nach dieser Lektüre Haydn für mich neu entdeckt. Musikalisch und menschlich. Seine Musik ist und bleibt großartig. Durch ihre vermeintliche Einfachheit kann sie gerade für Schüler eine Brücke in die Welt der Klassik sein. Eine Liebe aufs erste Hören entfachen. Denn Haydns Werke wirken bei aller Besonderheit eingängig und vertraut – einfach universell.  Claudia Bigos (bica)

◾ Claudia Bigos (bica)

Collage zum Thema Haydn von Karlotta Lask




Vorbereitungskurs Musiktheorie jetzt online möglich

Niedersachsen. Der Deutsche Tonkünstlerverband Niedersachsen hat in Zusammenarbeit mit der Internetplattform Musiktheorie-online.com erstmals die Möglichkeit geschaffen, sich online auf die Anforderungen in Musiktheorie im Rahmen einer Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule vorzubereiten. Er reagiert damit auf die Bedürfnisse des Flächenlandes Niedersachsen und möchte mit dem Onlinekurs einen Beitrag zum Chancenausgleich zwischen Zentrum und Peripherie leisten.
Der Onlinekurs Musiktheorie startet Mitte Februar 2020 und besteht aus zwölf Lerneinheiten zu je einer Woche, verbunden mit einem Gruppenseminar per SKYPE. An sechs Terminen erhält jeder Teilnehmer zusätzlich je eine halbe Stunde Einzelunterricht.
Eine Probeklausur am Kursende dient der Rückmeldung. Sie orientiert sich an den Musterklausuren der Musikhochschulen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz.
Technische Voraussetzungen sind: - Rechner mit Internetanschluss (Latop, Tablet-PC, internetfähiges Smartphone) - Drucker - Klavier (ePiano, Keyboard) - Scanner (Fotofunktion vom Smartphone) - SKYPE-Account - und eine Mailadresse.
Die Kosten betragen 450,- Euro, die Anmeldung erfolgt über die Geschäftsstelle des DTKV Niedersachsen: dtkv.niedersachsen@t-online.de.

◾ Ingo Laufs (InL)


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